Die zweite Meile

„Jesus will freie Menschen, die sich durch seinen Geist inspirieren lassen zu einer intelligenten Liebe.“
Zurzeit Jesu herrschte die römische Besatzungstruppe im Land. Abgesehen von den eingetriebenen Steuern beanspruchten sie auch noch Besatzerrechte, die Ärger bei den Juden erregten. Jeder römische Soldat konnte von einem Bürger des Landes willkürlich Hilfsdienste fordern. So konnte er verlangen, dass ein beliebiger Straßenpassant sein Gepäck eine Meile für ihn schleppte. Das war für die Bürger ein entwürdigender Akt. Auch wenn es nur eine Meile war, die rechtlich geregelt war. Aber für den Feind die Klamotten schleppen? Durch die Hauptstraße vor den Augen der eigenen Kinder und Nachbarn, das war doch wohl zu viel verlangt.
Doch nun sagt Jesus in der Bergpredigt: „Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, so gehe mit ihm zwei.“ (Matthäus 6, 41) Das ist hart, mag mancher denken, doch es ist typisch für Jesus. Er radikalisiert die Liebe. In diesem Falle die Feindesliebe. Für ihn wird Feindschaft nicht durch Feindschaft überwunden, sondern durch eine gewaltlose Provokation der Liebe. Wie hier beim Schleppen des Tornisters. Die erste Meile ist ein militärisch angeordneter Rechtsvorgang, die zweite Meile ein Handeln in der Art Jesu.
Doch wo wird dieses Liebesgebot heute bei uns konkret? Die Zweite Meile im Alltag der Bundesrepublik Deutschland? Wir leben in einem „Rechtsstaat“, der die Würde des Menschen schützt. Doch der Alltag ist voll von Situationen, die für die Übersetzung des Wortes passend sind. Jeder kann sie entdecken. Wenn er sich etwas Mühe macht und sein Denken vom Geist Jesu Christi einstellen lässt.
Nur ein paar Hinweise, die vielleicht sensibel machen können für eigene Entscheidungen: Ein Kollege ist zum Alkoholiker geworden - sich distanzieren wie andere im Büro, oder nicht besser zu ihm stehen und für ihn einstehen? Es gibt schwierige Ehen, die wegen der psychischen Verfassung des Partners kaum durchzuhalten sind. Sich trennen, oder die schwere Zweite Meile gehen? Als Lehrer mit einem Klassenrüpel in Geduld die Zweite Meile gehen, um ihn durch die Krise hindurch zu begleiten? Den Hof fegen, auch wenn der Nachbar dran ist, der jedoch Probleme mit seinen Knien hat? Auch wenn er sich kaum einmal bedankt. Bei einem Examen den ängstlichen Studenten nicht durch Härte demütigen, sondern ihm auf die Sprünge helfen? Das hier sei ohne jeden zwanghaften Unterton gesagt. Jesus will freie Menschen, die sich durch seinen Geist inspirieren lassen zu einer intelligenten Liebe.
Die Zweite Meile ist ja keinesfalls nur Verzicht. Ganz im Gegenteil enthält sie viele Chancen für ein gutes Zusammenleben und darin für die Mitteilung des Glaubens. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Die Motive werden geklärt. Nein, keine fromme Angeberei, die macht alles kaputt, doch können Christen ihren Glauben auch durch ganz einfaches Sich-Verhalten vermitteln. Gespräche entstehen dann wie nebenbei. Das kann sogar Kritiker, Skeptiker und Querulanten nachdenklich machen. Es können aus Feinden tatsächlich Freunde werden. Es steht nicht in der Zeitung, es wird still im Alltag erlebt.
Ich saß auf einem Flug nach Singapur zufällig neben dem Mönch eines katholischen Ordens, dessen Namen mir entfallen ist. Er trug ein weißes Gewand. Wir kamen in ein gutes Gespräch. Die Mönche dieses Ordens arbeiteten in den Slums großer Städte. Also ganz vorne im Elend und im Dreck. Als ich ihn nach der Glaubensverkündigung fragte, sagte er: „Wir leben bei den Menschen und helfen ihnen. Über unserem Glauben reden wir erst, wenn sie uns fragen.“ „Was fragen sie?“, fragte ich ihn. „Sie fragen: ’Warum tut ihr das?’ und dann reden wir.“