Gottverlassen

Herr, verlass mich nicht, bleib mir nicht fern, mein Gott! Eile mir zu Hilfe, Herr, du mein Heil! (Psalm 38,22-23)
Wer ist wem fern? Die Gottgewissen gehen mitunter davon aus, dass sich andere — mutwillig — entfernt haben. Das Konzept der Evangelisierung will die so genannten Fernstehenden mobilisieren, die alten und neuen Heiden in Europa beispielsweise. Das ist verdienstvoll, sofern es um Nähe und Distanz zur Kirche geht. Verhängnisvoll ist es aber, wenn dabei auch Nähe und Distanz zu Gott organisiert werden sollen. Denn in dieser Beziehung sind wir ziemlich ohnmächtig. Dem Psalmensänger jedenfalls ist schmerzlich bewusst, dass sich möglicherweise Gott selbst entfernt, trotz aller Gebetsbemühung, trotz aller menschlichen Geistesgegenwart.
Unter uns Menschen ist es leicht dahingesagt: Wer sich auf dich verläßt, ist bald verlassen. Wir kennen unsereiner. Bei Gott dagegen gibt es keinen Wankelmut. So hat man es uns beigebracht. So haben wir es internalisiert. So hätten wir's gern. Aber weil wir Gott und den Nächsten in derselben Weise lieben wollen, mischen sich Fragen ins große Vertrauen. »Warum hast du mich verlassen?«
Die Möglichkeit, dass Gott sich von uns entfernt, macht beklommen. Doch gerade sie gehört zur Vitalität unserer Beziehung. Kommen, Gehen, Haben, Nichthaben, Umarmen, Loslassen, Spüren, Vermissen. Advent ist unser Ernst. Nicht nur liturgische Routine. Gott läßt wieder mal auf sich warten. Wir werden sehen.