Jahreslosung

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
Ich sehe das Bild immer noch vor mir. Ein junges Paar, er um die dreißig Jahre, sie Mitte zwanzig. Er stieg aus dem Wagen, bückte sich in der rechten Tür tief nach unten und trug seine schöne Frau in den Armen. Er legte sie sorgfältig auf seinen Rücken, sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und so trug er sie ins Haus und die Treppe hoch in den zweiten Stock. Die Nachbarn wussten, dass die junge Frau bald nach Beginn der Ehe von der Multiplen Sklerose (MS) erfasst wurde. Passanten, die es sahen, waren bei diesem Anblick zuerst erschrocken und dann sichtlich bewegt. Es ist inzwischen Jahre her, doch sie sind immer noch beisammen. Ich kenne sie nicht persönlich, doch ich weiß um sie. Er schiebt sie oft im Rollstuhl durch die Straßen der Stadt.
Dieses auffällige Beispiel darf nicht verdrängen, dass es viele Lastenträger unter uns gibt, die kaum auffallen, sie tun ihre Hilfsdienste an den Betten ihrer schwer kranken Ehepartner, oder bei der Pflege der Eltern bis zum Sterben. Inzwischen gibt es Pflegedienste, deren Kleinwagen wir in den Straßen und vor den Häusern sehen. Doch es gibt noch viel zu tun in den Familien und viele tun ihre Arbeit oft bis an den Rand ihrer körperlichen und seelischen Kräfte. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die sich um Kinder kümmern, die unter der sozialen Not der Familie leiden und Ermutigung und kleine Hilfen brauchen. Schülerinnen und Schüler wie auch Studenten können sich einfach mal einsetzen bei jemand, der mit einem Thema nicht voran kommt. Hier tun sich viele Situationen auf, die jetzt nur angedeutet werden können.
„Ein jeder trage die Last des andern“ singt der Songpoet Manfred Siebald und meint die ganze Breite der Aufgaben, die der Alltag uns stellt. Sein Lied basiert auf einem starken Wort des Völkermissionars Paulus: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6, 2). Dieser Mann hatte viel Not in den Ländern und den noch jungen Gemeinden gesehen, die er besuchte. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Römer 12, 15). Hier ist das ganze Leben mit Freud und Leid beisammen, doch dieser intellektuelle Theologe wusste offensichtlich auch manchmal nicht weiter und weinte mit den Weinenden. Der christliche Glaube behauptet nicht, dass der Glaube alle Nöte von den Menschen nimmt und sie zauberhaft beseitigt. Jeder aber kann zupacken und tragen helfen. Wenn ein Klassenkamerad gemobbt wird, kann einer sich vor ihn oder demonstrativ neben ihn stellen. Im Berufsleben gibt es reihenweise Möglichkeiten der ganz konkreten Liebe.
„Ihr werdet das Gesetz Christi erfüllen“ ist keine These aus dem Bereich der Morallehre, sondern der Blick auf den Spender dieser Liebe. Jesus sagte: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.“ Gebot und Gesetz klingt in unseren Ohren hart. Das aber ist hier keine Minisekunde lang gemeint. Im Wissen um die umfassende Liebe Gottes zu allen Menschen und in der konkreten Erfahrung der Liebe von Jesus selbst, geht eine ganz neue Welt vor unserem inneren Auge auf. „Perspektiven-Wechsel“ nennen die Philosophen diese Erfahrung. In der Liebe und im Tragen von Lasten wird der Glaube ganz praktisch. Der Glaube ist kein Wolkenkuckucksheim, er findet hier auf der Erde statt.
Und wenn hier einer einhakt und meint: „Ich bin aber (noch) kein Christ, dann sage ich ihm: Versuche es doch mal mit dem Lastentragen und versuche es mit der konkreten Liebe. Mancher hat so begonnen und wurde ein Christ. Nicht durch seine Leistungen, aber durch die Erfahrungen der eigenen Schwachheit und dem Fragen nach der Basis für alles. Mancher ging um eine Ecke und traf plötzlich Jesus. Er ist die Liebe in Person.
Johannes Hansen