Atemholen Nr. 672
26. April 2020

Es fing schon sehr früh in unserem Leben an, dass wir gehalten wurden. Erst drehten wir uns auf der ausgebreiteten Decke oder dem Teppich munter wie ein Knäuel Leben. Als wir erste Schritte versuchten, stürzten wir oft und liefen vor Tisch- und Stuhlbeine. Doch begann ganz langsam der "aufrechte Gang" wie ihn der Philosoph Ernst Bloch nannte. Richtig schön wurde es, als wir am Zeigefinger der Mutter oder des Vaters beim Spaziergang dabei sein durften. Immer von oben gehalten, anders ging es noch nicht.
Schneller als das Weberschiffchen eilen meine Tage, der Faden geht aus, sie schwinden dahin. Denk daran, dass mein Leben nur ein Hauch ist. Nie mehr schaut mein Auge Glück. (Hiob/Ijob 7,6-7)
Mein Lebensfaden: Nie hatte ich ihn in der Hand. Nie hätte ich ihn verlieren können. Der ihn mir gab, war für ihn zuständig: Gott, der Herr des Webstuhls. Solange er wollte, gab er mir Faden. Solange er einen Sinn in meinem Gewebe erblickte. Als ich bemerkte, wie kurz der Restfaden war, bekam ich's mit der Angst, und versuchte, möglichst viel mit möglichst wenig Faden zu fertigen. Mein Gewebe wurde immer haltloser. Da gab man mich in Pflege. Das bisschen Faden war gerade noch gut genug für mich allein. Ich hielt mich an ihm fest und verzichtete auf weitere Produktion. Ich wurde Raupe. Ich wurde Schmetterling. Und siehe, alles war gut. Der Herr des Webstuhls lächelte. Denn der Sinn meines Lebens war größer als der Sinn meines Gewebes.