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Eine aufgebrachte Gemeinde
Lukas 4,16-30
Als Jesus auf seiner Wanderschaft durch Galiläa wieder einmal Station in seiner Heimatstadt Nazareth macht, besucht er am Sabbat den Synagogengottesdienst. Nach dem alten Bekenntnis, dem Sch’ma Jisrael (5. Mose 6), dem Achtzehn-Bitten-Gebet und der fortlaufenden Lesung aus der Thora (die fünf Bücher Mose) folgt im Synagogengottesdienst ein liturgisches Überraschungsmoment: Denn nun kann jeder erwachsene Mann aufstehen, nach vorne gehen, einen frei gewählten Abschnitt aus den Prophetenbüchern lesen und dazu einen Kommentar abgeben.
Diesmal ist es Jesus, der sich aus dem Schriftenbestand der Synagoge die Buchrolle des Propheten Jesaja reichen lässt. Jesus entrollt das Prophetenbuch und liest die Stelle aus Jesaja 61,1.2. Dieses Zitat trägt eindeutig messianischen Charakter, das heißt, es redet von einem von Gottes Geist Gesalbten, der kommen wird, um den Armen, Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen eine Zeit des Heils ("das Gnadenjahr des Herrn", Vers 19) anzusagen. Wenn wir das Zitat bei Jesaja nachlesen, fällt etwas Überraschendes auf: Jesus hat das Zitat mitten im Satz abgebrochen, als er die Schriftrolle wieder zusammenlegt und zurückgibt. Der entscheidende Halbsatz, den er weglässt, lautet: …und einen Tag der Vergeltung unseres Gottes (Jesaja 61,2).
Offenbar will Jesus damit sagen: Den Armen die frohe Botschaft zu bringen – dazu bin ich gekommen. Nicht aber, um die Rache Gottes zu predigen. Ich sehe mich nicht als Richter; ich komme als Heiland mit der guten Botschaft. Ja mehr noch: Ich bin bereit, das Gericht und den Zorn Gottes selbst auf mich zu nehmen.
Sind die Zuhörer schon erstaunt über den freien Umgang Jesu mit dem prophetischen Wort, so sind sie erst recht entrüstet und entsetzt, als Jesus den verlesenen Text mit den Worten kommentiert: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren“ (Vers 21). Heute, also mit Jesus, soll das verheißene Gnadenjahr des Herrn anbrechen? Wie kann sich Jesus anmaßen, der Gesalbte (= Messias, bzw. Christus) zu sein, der den Armen und Geschundenen die Erlösung bringt?!
Text aus: Klaus Jürgen Diehl, In 99 Tagen durch die Bibel, © Brunnen-Verlag
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Gemälde Kristina Dittert © 2011