Hier stehe ich, kann ich auch anders?
Heiko Metz im Gespräch mit Dr. Kathinka Hertlein, Referentin für Theologie und Jugendsoziologie bei der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V. (aej)
Seit ich denken kann, schwärmen mir bekannte Menschen von den Passionsspielen in Oberammergau. Teilweise ist es ja sogar schwer, an eine Karte für eine Aufführung heranzukommen. Wie hast du es da geschafft, hinter die Kulissen der berühmten Passionsspiele zu schauen?
Ich arbeite als stellvertretende Leitung im Redaktionsteam des Ökumenischen Kreuzwegs der Jugend mit. Den Jugendkreuzweg gibt es schon seit vielen Jahrzehnten. Wir versuchen jedes Jahr erneut die Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi mit Bildern, Texten, Liedern, Gebeten und Aktionen so darzustellen, dass sie an die Lebenswirklichkeiten von jungen Menschen andockt und sie davon berührt werden. Das ist ein wirklich spannender konzeptioneller Prozess: Wie passen die biblischen Geschichten, die Ästhetik der Bilder und das Leben Jugendlicher heute zusammen? Welche Bilder und Kunstform wählen wir? Wie formulieren wir die Texte so, dass sie aktuell und ansprechend sind? Daher sind wir immer auf der Suche nach Kunstschaffenden, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, oder bestehenden Kreuzwegen, um damit zu arbeiten.
Die Passionsspiele Oberammergau werden aus Dank vor Bewahrung vor der Pest seit 1634 aufgeführt. Ein Mitglied der Redaktion hatte den Vorschlag, dass wir auf die Passionsspiele Oberammergau zugehen, um für den Jugendkreuzweg 2020 mit den Passionsspielen zu kooperieren. Im Februar 2020 konnten wir Redaktionsmitglieder nach Oberammergau fahren, die Proben beobachten und mit Mitwirkenden sprechen. Und dann kam die Corona-Pandemie und die Passionsspiele mussten samt weiterer Proben auf 2022 verschoben werden.
Die Schauspieler müssen sich in ihre Rolle hineindenken, sich mit den Personen identifizieren, die sie darstellen. Was macht diese Identifikation mit Menschen aus der Passionsgeschichte mit ihnen?
Genau diese Frage hat uns in der Redaktionsarbeit auch sehr beschäftigt. Daher haben wir bei unserem Besuch einige Darsteller interviewt. Spannend war es zu erfahren, wie prägend die Passionsspiele für Leben und Kultur von Oberammergau sind und wie sie das Leben dort bestimmen.
Beispielsweise werden alle mitwirkenden Männer zu einem bestimmten Zeitpunkt dazu aufgefordert, sich ihre Haare und Bärte wachsen zu lassen, sodass wir vor Ort vielen haarigen Männern begegneten. Wir konnten bei den Proben beobachten, wie der Regisseur Christian Stückl mit den Darstellenden arbeitete und sie herausforderte, in ihre Rollen zu schlüpfen und auf der Bühne zu spielen.
Das brachte uns im Redaktionsteam auf die Idee, die Texte für den Jugendkreuzweg aus der Perspektive der Darstellenden zu schreiben. Denn genau das fanden wir interessant: Was macht es wohl mit den Menschen, die Passion Jesu mitzuerleben? Wir möchten die Jugendlichen beim Kreuzweg „backstage“ dadurch herausfordern, ihre eigene Position zu den Geschehnissen zu finden: Welche Haltung habe ich zu Leben und Leiden von Jesus? Muss ich vielleicht die Perspektive wechseln? Halte ich aus, was ich da sehe.
Was hat es mit dir gemacht, vermeintlich Menschen aus der Leidensgeschichte Jesu live zu begegnen? Und warum?
Das war richtig klasse! Da stehe ich vor der Bühne und erlebe, wie Jesus mit Judas diskutiert und die Menschen um ihn herum bewegt. Und da es ja Proben waren, denen ich beiwohnte, waren die Menschen, die da Sätze aus der Bibel sprachen, so angezogen wie wir, nämlich mit Mützen und dicken Jacken. Da wurde mir richtig bewusst, dass Jesus Mensch war, so wie ich Mensch bin.
Mein absolutes Highlight war, dass mir Jesus (bzw. einer der beiden Jesus-Darsteller) beim Vorgespräch einen Cappuccino brachte. Jesus bringt mir Kaffee – also DER Jesus, mir! Das war ein unglaubliches Gefühl. Ich habe erlebt, wie es ist, dass Jesus sagt, dass er gekommen ist, um zu dienen (Die Bibel: Markus 10,45). Plötzlich war das so real und nah. (Leider muss ich ja sagen, dass ich die Darsteller verwechselt habe und es doch nicht Jesus war, aber das tut dem Erlebnis keinen Abbruch.)
Warum ist ein Standpunkt zu Jesus wichtig? Wie hat sich deiner durch die Beschäftigung mit der Passion verändert?
In meinem Glauben ist Jesus Christus zentral. Ich rede mit ihm in Gebeten und Liedern. Ich beschäftige mich mit seiner Person im Lesen der Bibel und verschiedener theologischer Bücher oder im Gespräch mit anderen.
Die intensive Beschäftigung mit der Passion, gerade auch in den Passionsspielen, führte dazu, dass ich stärker reflektiere, welche Haltung und Gefühle in der Leidensgeschichte Jesu eine Rolle spielen. Ich habe mich gefragt, wie sich wohl Maria Magdalena fühlte, als Jesus gekreuzigt wurde, welche unterschiedlichen Haltungen die Menschen aus der Menge zu ihm einnahmen oder was die Soldaten über den Mann dachten, den sie ans Kreuz schlugen. Das hat meine Wahrnehmung der biblischen Texte vertieft und erweitert.
Wenn ich frage, was die Menschen damals fühlten und welche Position sie gegenüber Jesus einnahmen, merke ich, wie nah sie mir sind. Ich verstehe mehr und mehr, dass Jesus wirklich mit uns Menschen mitleidet, weil er selbst schon Demütigung, Verleumdung, Verrat, Mobbing, Schmerzen und Trauer in seinem Weg ans Kreuz erlebte.
Ich glaube, dass Gott in Jesus Mensch wurde. Daher finde ich es auch wichtig, gegenüber der Person Jesu einen Standpunkt zu haben; zu wissen: Wer ist dieser Mann für mich, von dem Christen sagen, dass er für uns gestorben und auferstanden ist und lebt? Ich halte es für unverzichtbar, sich mit ihm, seiner Person, seinem Wesen und Leben auseinanderzusetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Wer selber einmal über seinen Standpunkt zu Jesus nachdenken möchte, kann den Bericht über die Passion Jesu in der Bibel nachlesen, z. B. im Lukasevangelium, Kapitel 22–24.
Mehr zum Jugendkreuzweg: jugendkreuzweg-online.de